LNVL  -  Lëtzebuerger Natur- a Vulleschutzliga asbl
Veröffentlicht in Regulus (ISSN 1727-2122) 1998/1 S. 16-17

Eindrücke aus der Tschernobyl-Sperrzone

 
Am 26. April jährt es sich zum zwölftenmal, daß Tschernobyl durch die Explosion eines Atomreaktors zu trauriger Berühmtheit gelangte. Das ist sicherlich kein Grund zum Feiern, für uns aber Anlaß, das Thema Atomkraft im „regulus" aufzugreifen. Der Autor des nachfolgenden Berichtes, Dr. Emile Tockert, ist nicht nur Präsident der Luxemburger Sektion von „Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg" (IPPNW) und Verwaltungsratsmitglied der Stiftung „Kriibskrank Kanner", sondern als Kinderarzt auch vor Ort aktiv im Einsatz, um denen zu helfen, die am meisten unter dieser Katastrophe zu leiden haben. Sein Bericht entstand im Oktober 1997 anläßlich einer solchen Mission.

Neben dem Schlagbaum steht ein am Stacheldrahtpfahl befestigtes Schild mit der Aufschrift: Radio-ökologisches Schutzgebiet. Kleine Militärbusse warten auf uns. Ein Elch ist auf der Wagentür abgemalt; die Fahrer tragen grüngefleckte Kleider wie echte Rangers in einem Naturreservat. Will man uns vergessen lassen, daß wir uns in dem am meisten radioaktiv verseuchten Gebiet der Erde befinden? In diesem Teil Weißrußlands erstreckten sich einst die ertragreichsten Agrarböden des Landes.

Zu Beginn der Fahrt ist das Gelände meist offen. Große Ried- und Schilfflächen haben seit langem die wogenden Getreidefelder ersetzt. Die Entwässerungskanäle sind zugewachsen. Die Feuchtgebiete sind mit offenen Wasserflächen übersät. In dem Seerosengürtel huschen Wasserhühner. Weiße Reiher erheben sich und fliegen auf zum Horizont. Zugespitzte Baumstümpfe zeugen vom regen Leben der Biber. Unser Begleiter erklärt uns: „Hier macht die Natur wieder gut, was der Mensch gestört hat. Alles ist wieder wie im Urzustand. Die Natur und Gott haben Zeit und Geduld." Ich kann mich des respektlosen Gedankens nicht erwehren, daß das kurzsichtige und kurzfristige Denken und Handeln des Menschen der Natur die ihr nötige Zeit geraubt haben und daß, meines bescheidenen menschlichen Erachtens nach, Gott dagegen zuviel Geduld hat.

Der Wald wird dichter und umschließt die Wagen. Äste peitschen gegen die Scheiben. Die Straße ist teilweise überflutet und verschlammt. Eine Schar von weißköpfigen Schwanzmeisen turnt mit sanftem Gezeter zwischen den roten Pfaffenhütchenbeeren. Die weißen, schlanken Stämme der Birken leuchten bis tief in den dunklen, herbstlichen Mischwald hinein. Auf den mit silbergrauen Rentierflechten bedeckten Böden wachsen unzählige, untertassengroße Pilze. Rote, in der Sonne gleißende Fliegenpilze, Steinpilze mit halbkugeligem Hut sprießen zwischen ausladenden Farnen. Einen Pilzführer braucht man hier nicht, giftig sind sie alle. In Bragin, am Rande der Sperrzone, im Labor, wo die noch verbliebenen Bauern ihre Garten- und Feldfrüchte untersuchen lassen, haben wir die radioaktive Belastung eines Steinpilzes gemessen: 27 000 Beq/kg.

Abgesehen von einigen Beamten, die abwechselnd in der Meßstation an der belarussischen-ukrainischen Grenze arbeiten, ist die Sperrzone um den zerstörten Reaktorblock im Prinzip menschenleer. Die Tierwelt hat sich ungestört entwickelt. Wölfe und Elche vermehren sich. Wisente wurden im Wald ausgesetzt und haben inzwischen Nachwuchs.

Wir kommen in die ersten verlassenen Dörfer. Das trügerische Bild des scheinbaren Naturparadieses zerbricht. Meist sind es schöne, aus Blockbohlen gebaute, mit Schilf gedeckte Holzhäuser mit farbigen, von Holzschnitzereien umrahmten Fenstern und Türen. Die Dächer sind eingestürzt, die Fenster zerschlagen oder mit einem Holzkreuz zugenagelt. Brunnen und Backofen vor dem Haus sind zerfallen. Hinter zerbrochenen Lattenzäunen wuchern verwilderte Gärten, in die reife Äpfel, Astern und einige Sonnenblumen etwas Farbe bringen. Hier bricht die menschliche Tragödie jäh ins Bewußtsein. Auf einer zerbröckelten Tischdecke stehen noch Teller, Gläser sind zu Boden gerollt. Die Schränke stehen offen, die Betten sind umgeworfen. Nachdem die Bewohner, oft ohne Ankündigung und teilweise nachts, evakuiert worden waren, kamen die Plünderer.

Etwas abseits steht eine Baumgruppe, in deren Schutz der Friedhof liegt. Viele Grabkreuze sind mit Kunstblumen behangen und zeugen von den Dorfbewohnern, die jetzt zum großen Teil in Wohnsilos am Rande der Städte leben und in ihre Heimat zurückkommen, um ihrer Toten zu gedenken.
Auf einer kleinen Anhöhe steht der Reaktor plötzlich vor uns auf der ukrainischen Seite der Landesgrenze. Das Atomkraftwerk mit seinen vier Reaktoren erstreckt sich an der Horizontlinie. Das Gerüst eines Kranes überragt den Sarkophag. Etwas westlich daneben erkennt man deutlich die Wohnblöcke der Stadt Pripjat mit ihren leeren Fenstern. Die Arbeiter und Bediener des Kraftwerkes haben die Stadt nach der Havarie verlassen. Sie wurden 40 km weiter angesiedelt und sind mit einer eigens dafür gebauten Bahn mit dem Reaktor verbunden. Heute wissen wir, daß der Unfall ausschließlich durch Fehleinschätzung und menschliches Fehlverhalten, und nicht durch technisches Versagen verursacht wurde.

Auf dem Rückweg bricht die Nacht ein. Kein Lichtfleck weit und breit. Die Bäume „strahlen" weiter mit 1000 Beq/kg Masse. Die Belastung durch radioaktives Caesium wird, gemäß den Erklärungen des uns begleitenden Umwelt- und Forstspezialisten, noch etwa 200 bis 300 Jahre dauern. Dieses Radionuklid dringt extrem langsam in tiefere Bodenschichten und verbleibt deshalb in der Blatt- und Nadelschicht des Waldes. Dort wird es von dem oberflächlichen Wurzelgeflecht der Bäume aufgenommen und hauptsächlich in die schnellwachsenden Teile, wie etwa das Blattwerk, inkorporiert. Beim Laubfall gelangt es wiederum auf den Waldboden und damit in den Selbsterhaltungszyklus der Natur. Was die Belastung durch schwere und langlebigere Spaltprodukte betrifft, so wird sie in verschiedenen Gebieten für unsere menschlichen Begriffe ewig dauern. Die Nukleartechnik liegt außerhalb des Verantwortungsvermögens des Menschen.

Ein Freund aus Moskau erklärt mir, daß „Tschernobyl" nicht nur „schwarzes Wasser" bedeutet, sondern auch „-schwarze" oder „düstere Wahrheit".

Einen Aspekt dieser lange verneinten und/oder heruntergespielten Wahrheit hatten wir auf jeden Fall am Vortag in belarussischen Spitälern und im Gespräch mit unseren dortigen Berufskollegen erfahren. In Oblast Gomel, nördlich von Tschernobyl, war der radioaktive Niederschlag besonders stark. Der strahleninduzierte Schilddrüsenkrebs, eine besonders aggressive und invasive Form von bösartigen Tumoren, ist bei den Kindern um weit mehr als das Hundertfache über den 10-Jahres-Mittelwert von vor 1986 angestiegen.

Dr. Emile Tockert (Oktober 1997)
 
Die inzwischen tatsächlich aufgetretenen Fälle von Schilddrüsenkrebs, insbesondere bei Kindern, übertreffen die auf den üblichen Annahmen zum Strahlenrisiko basierenden Prognosen bei weitem und deuten auf eine erhebliche Unterschätzung des Strahlenrisikos und der Tschernobyl-Folgen hin.
aus: Münchener Medizinische Wochenschrift, Jahrgang 138 (1996) 15


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