Geheimnisvoller Vogelzug
Das in unseren Breiten alljährlich zweimal zu beobachtende Phänomen
des Vogelzugs bewegt die Menschen immer wieder, wie dies z.B. die vielen
spontanen Meldungen durchziehender Kraniche Jahr für Jahr beweisen.
Obschon bis ins letzte Jahrhundert landläufige Meinungen wie z.B.
diejenige, dass der Kuckuck sich im Herbst in einen Sperber verwandeln
soll oder jene andere, dass die Schwalben sich im Herbst scharenweise in
den Schlammgrund von Weihern verkriechen sollen, längstens ins Reich
der Märchen verbannt worden sind, übt der Vogelzug nach wie vor
eine eigenartige Faszination auf den Menschen aus, die mehr seine Gefühle
als seinen Verstand angeht. Dem hat er denn auch in Gedichten, Liedern,
Erzählungen, Sagen, Tänzen usw. Ausdruck verliehen. Während
der Herbstzug an die kommende harte, früher doch recht beschwerliche
Jahreszeit erinnert und eher melancholisch stimmt, birgt der Frühjahrszug
das neuerliche Erwachen der Natur in sich und stimmt recht freudig. In
diesem Zusammenhang verwundert es eigentlich auch nicht, dass gerade die
Menschen der nördlichen Länder dem Vogelzug besondere Aufmerksamkeit
schenken, wohingegen die Einwohner südlicherer Gefilde, die die jahreszeitlichen
Veränderungen in der Natur vielfach nur in abgeschwächter Form
kennen, diesem Phänomen viel nüchterner gegenüberstehen,
indem sie den alljährlich wiederkehrenden "Vogelsegen" z.B. ganz einfach
zu kulinarischen Zwecken nutzen.
Im folgenden sollen die wichtigsten Aspekte des Vogelzugs kurz behandelt
werden, wobei zu bemerken ist, dass dies in stark vereinfachter Form geschehen
muss, da das Phänomen des Vogelzugs eine doch recht komplexe Angelegenheit
ist.
Wer zieht? Wer bleibt?
Es leuchtet ein, dass der Vogelzug etwas mit den Nahrungsansprüchen
der einzelnen Vogelarten zu tun hat. Arten die auf frei sich bewegende
Insekten - die im Winter nicht mehr zur Verfügung stehen - angewiesen
sind (z.B. Mauersegler, Schwalben, Rohrsänger ...) geh¨ren zu
den ausgeprägten Zugvögeln (Sommervögeln), die in
der Regel südlich der Sahara überwintern und im Frühling
spät zu uns zurückkehren.
Den Gegensatz dazu bilden die sogenannten Standvögel (Jahresvögel), die das ganze Jahr über im Brutgebiet Nahrung finden (z.B. die körnerfressenden Sperlinge, die allesfressenden Elstern, die Spechte, die Insektenlarven unter Baumrinde hervormeisseln ...). |
Unterwegs nach Afrika: Neuntöter auf dem Zug in Oman. |
Viele Arten gehören aber zu keiner dieser beiden Extremformen. Man bezeichnet sie mit Teilziehern. So können südliche Populationen einer Art stationär leben, während die in nördlicheren Breiten heimischen sich wie Zugvögel verhalten. In den Übergangsgebieten (Luxemburg gehört vielfach hierzu) verbringen einzelne Vögel den Winter vor Ort, während andere wegziehen. Typische Beispiele hierfür sind Amsel und Rotkehlchen. |
Doch die Sache ist (leider) noch viel komplizierter, als es diese grobe
Einteilung zeigt. So kann das Zugverhalten von Männchen und Weibchen
verschieden sein. Ein typisches Beispiel hierfür ist der Buchfink.
Er zeigt eigentlich alle Varianten des Zugverhaltens.
Eine grosse Anzahl von Buchfinken zieht im Herbst von Nordosten kommend bei uns durch (1), andere Individuen überwintern bei uns (2), von unseren Brutvögeln bleibt ein Teil als Standvögel im Land (3), während andere (vor allem Weibchen) als Zugvögel nach Südwesten wandern (4). Im Norden (z.B. Südschweden) überwintern nur wenige Buchfinken (und zwar ausschliesslich Männchen). Je weiter wir in Europa nach Südwesten gehen, desto grösser wird die Zahl der Buchfinken und der Anteil der Weibchen. Die kräftigeren Männchen mit ihrem Plus an Reserven sind offensichtlich besser an winterliche Verhältnisse angepasst als die Weibchen. Im Frühjahr sind sie damit schneller im angestammten Brutgebiet und können noch vor Ankunft der Weibchen ein ihnen zusagendes Revier besetzen. |
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Vögel, die auf Samen von Bäumen und Sträuchern angewiesen sind, müssen sich aber dem Fruchtzyklus dieser Bäume anpassen, der von Region zu Region und je nach Wetter variieren kann. So wurde u.a. ein Zusammenhang zwischen schlechten Bucheckernjahren und dem Wegzug der Meisen in unseren Breiten festgestellt. Vor allem bei vorhergehendem grossen Bruterfolg kommt es zu einem vermehrten Abwandern. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang das Auftauchen sogenannter Invasionsvögel. Ein Zusammenbruch des Nahrungsangebots (mangelndes Fruchten von Rotbuche, Erle, Eberesche, Hasel, Fichte, Kiefer ...) in ihren nordischen Brutgebieten zwingt z.B. Bergfinken, Tannenhäher, Zeisige, Fichtenkreuzschnäbel ... mehr oder weniger regelmässig zu längeren Wanderungen. Gibt es bei uns genügend Futter, so verweilen die nordischen Gäste wintersüber oft in millionenfacher Anzahl. |
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Menschen, Tiere und Pflanzen tendieren auf maximale Ausnützung
von Raum und Zeit. Bei Zugvögeln führt jedes Jahr ein Teil der
Jungvögel den Heimzug etwas über den Geburtsort hinaus oder bricht
die Wanderung etwas vorher ab; unter günstigen Bedingungen werden
dabei neue Regionen besiedelt, das Areal der Art wird erweitert. Ebenso
gibt es Jungvögel, die in der Rückkehrzeit leicht von den Altvögeln
abweichen oder später wegziehen. Wenn sich das Klima in günstigem
Sinne für die "Aussenseiter" entwickelt, werden sie von der Evolution
bevorzugt. Ein einziger früher Wintereinbruch kann jedoch diese "Abweichler"
wieder auslöschen und die Rückkehr zum Normalverhalten erzwingen.
Was vom tierschützerischen Standpunkt aus als Katastrophe erschien, war im Sinne der Evolution die Ausschaltung von rund 10% der Population, die sich an relativ späten Wegzug gewöhnt hatten. Wären die Schwalben nicht durch andere negative Einflüsse unserer technisierten Welt beeinträchtigt, könnten sie den Verlust innerhalb weniger Jahre ausgleichen. Was wir vermenschlichend als brutales Wirken der Natur empfinden, ist biologisch gesehen ein Teil der ständig ablaufenden Evolution: eine gewisse Überproduktion an Nachkommen, die zum Teil vom Normalverhalten abweichen, fördert die Weiterentwicklung dieser Art. Die Entwicklung der Umwelt legt anschliessend fest, ob abweichende Tendenzen gefördert oder eliminiert werden. Alle Rettungsaktionen nützen nichts wenn wir unsern Lebensraum so verändern, dass die normalen Lebensansprüche unserer Vogelwelt nicht mehr erfüllt werden. |
Wohin ziehen sie?
Die
Langstreckenzieher
überwintern meist südlich der Sahara. In der Regel handelt es
sich um Insektenfresser. Die Kurzstreckenzieher fliegen nur bis
Südeuropa oder höchstens Nordafrika.
Die Kurzstreckenzieher sind vor allem am Tag unterwegs. Es sind vorwiegend
Körnerfresser, und sie fliegen in Schwärmen. Tagsüber ziehende
Langstreckenzieher sind z.B. die Schwalben, die sich unterwegs fliegend
ernähren können, sowie die Segelflieger unter den Vögeln
(Störche, Greifvögel ...), die thermische Aufwinde, die durch
Sonneneinwirkung entstehen, benötigen. Die Durchschnittsflugleistung
liegt bei 100-150 km pro Tag.
Die meisten der insektenfressenden Vögel sowie die Mehrzahl der
Wat- und Wasservögel ziehen nachts. In der kühlen Nachtluft können
sie die beim Flug entstehende grosse Wärme an die Umgebung abgeben,
ohne zuviel Wasser zu verlieren. Den Tag nutzen sie zur Nahrungsaufnahme.
Deshalb sind entsprechende Rastgebiete auf dem Zugweg von grosser Bedeutung.
Nachtzieher - in der Regel Langstreckenzieher - fliegen entweder in
lockeren Verbänden, die durch Rufkontakt zusammengehalten werden,
oder einzeln. Die Durchschnittsflugleistung liegt bei 400-600 km pro Nacht.
Viele Vogelarten halten sich an bestimmte Zugrouten. Meere werde n
in der Regel an den engsten Stellen überquert, während Gebirge
entweder umflogen oder über die niedrigsten Pässe überwunden
werden. Die meisten unserer Zugvögel halten eine südwestliche
Richtung ein und überqueren das Mittelmeer bei Gibraltar. Andere ziehen
über Italien nach Afrika. Nur wenige Arten (z.B. Klappergrasmücke,
Sumpfrohrsänger) wählen eine südöstliche Route, um
über die Türkei und Ägypten nach Ostafrika zu gelangen.
Man unterscheidet zwischen Schmalfrontenziehern, die eine relativ
schmale Zugroute einhalten und Breitfrontenziehern, die die Kontinente
in breiter Front überqueren. Der Weissstorch ist ein typischer Schmalfrontenzieher,
der offene Wasserflächen wegen der fehlenden Aufwinde meidet. Auf
zwei Zugstrassen, die über Gibraltar, die andere über den Bosphorus,
(je nachdem er westlich oder östlich der Linie Ijsselmeer (Holland)
über Osnabrück zum Kyffhäuser und von da südwärts
entlang den Flüssen Regnitz und Lech aufwuchs) zieht er alljährlich
nach Afrika und zurück. Typische Breitfrontenzieher sind z.B. Drosseln
und Grasmücken.
Der Frühjahrszug verläuft im übrigen bei allen Vogelarten
schneller und in einer direkteren Linie.
Die Flugleistungen einiger Vogelarten sind wirklich beeindruckend.
So zieht z.B. eine Küstenseeschwalbe von Grönland nach Südafrika
(17.600 km), ein Steinwälzer von den Alëuten in Alaska nach Neuseeland
(10.700 km), eine Rauchschwalbe vom Altai-Gebirge in Zentralasien nach
Mosambik (über 12.000 km) ..., und das jeweils hin und zurück.
Eine naheliegende Lösung ist erstaunlicherweise selten: nur bei
Gänsen, Schwänen, Kranichen und einigen anderen langlebigen Arten
starten Altvögel im Herbst mit ihren Jungen und geben damit ihre Erfahrungen
(u.a. Lage von Rastplätzen, Winterquartiere) an die nächste Generation
weiter.
Doch bei vielen Arten (z.B. Kuckuck) verlassen die Altvögel ihre
Brutgebiete sogar früher als die Jungvögel und können also
keine Informationene weitergeben.
Dass das Zugverhalten einem starken inneren Trieb entspricht, der hormonal
gesteuert wird, zeigt z.B. die Tatsache, dass Mauersegler manchmal schon
wegziehen (in der Regel in der ersten Augusthälfte), obschon sie noch
Junge zu versorgen haben, die dann verhungern müssen.
Das Zugverhalten wird durch eine innere Uhr bestimmt und ist erblich
festgelegt. Um zu zeigen wie sich die Wissenschaft anlegt, um Licht
ins Dunkel des Zugverhaltens zu bringen, wollen wir Dr. E. Bezzel zu Wort
kommen lassen:
Was sich nachts im Registrierkäfig (ein besonderer Käfig
zum Studium der Zugunruhe handaufgezogener Zugvögel A.d.R.) abspielte
konnte vor kurzem der Max-Planck-Wissenschaftler Peter Berthold der wissenschaftlichen
Öffentlichkeit vorstellen. Nacht für Nacht beobachteten Videokameras
bei Infrarotlicht handaufgezogene Gartengrasmücken, die noch nie natürliche
Umgebung gesehen hatten. Die völlig ungestörten Vögel hüpften
grösstenteils nicht ruhelos hin und her, sondern sassen auf einer
Stange und liessen die Flügel schwirren. Am Monitor ergab die Auswertung
der Flügelbewegung eine mittlere Dauer von 165 Stunden pro Herbst.
Diese "Bewegungsmenge" entspricht einer Gesamtflugstrecke von rund 4800
Kilometern. Damit würden süddeutsche Gartengrasmücken (mittlere
Reisegeschwindigkeit 25 bis 30 Stundenkilometer) auf ihrem Zugweg über
die iberische Halbinsel etwa bis zur Nigermündung kommen: exakt ins
Zentrum ihres Winterquartiers!
Die Information über die Länge des Zugweges ist also durch ein angeborenes Bewegungsprogramm gesichert. Zwei Kontrollfragen bieten sich an: Zum einen müssten im Registrierkäfig skandinavische Grasmücken mehr und Brutvögel südlicher Breiten weniger Zugunruhe zeigen - entsprechend ihren unterschiedlich langen Wegen ins Winterquartier. Zum anderen: Wenn das Programm tatsächlich vererbt wird, müssten Bastarde (Mischlinge) mit ihrer Zugunruhe einen "Mittelweg" wählen - etwa zwischen dem angeborenen Programm der Mutter aus Mittelschweden und dem des Vaters aus Südfrankreich. Beide Annahmen wurden im Experiment bestätigt. So besteht kein Zweifel mehr: Über die Zugunruhe lässt sich messen, welche Information zum Thema "Reisestrecke" Vögel einer bestimmten Region gewissermassen schon aus dem Ei mitbringen, so dass auch der auf sich gestellte Neuling "weiss", wie weit er fliegen muss. |
Ed. Melchior
Literatur:
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