LNVL - Lëtzebuerger Natur- a Vulleschutzliga asbl
Veröffentlicht in Regulus (ISSN 1727-2122) 2000/4 S. 10-11
Wilde Mehllieferanten
Bis ins 19. Jh. war die Produktivität unserer Getreide erschreckend gering. Die Ernte betrug  des öfteren nur die drei- bis fünffache Aussaatmenge. Davon mussten verschiedene Steuern und Abgaben geleistet, eine vielköpfige Familie ernährt und das Saatgut für das kommende Jahr abgezweigt werden. Wetterunbill, häufige Fehden und Kriege, Schädlinge und mangelhafte Düngung schmälerten die Ernte zusätzlich. Der hungernden Bevölkerung blieb oft nichts anderes übrig, als das Grundnahrungsmittel Mehl zu strecken.
Was lag näher, als die Körner verbreiteter Wildgräser zu ernten? Sie wuchsen oft massenhaft auf den Brachen der Dreifelderwirtschaft  und in dorfnahen Ruderalfluren. Man sammelte die Ähren der Mäusegerste (Hordeum murinum, Broochgiescht, siehe auch REGULUS 2/1990, S. 64), deren Körner, entspelzt, ein gutes Mehl ergaben, im Gegensatz zu denen der Roggentrespe (Bromus secalinus) und des Wasserschwaden (Glyceria fluitans). Die Ausbeute war denkbar gering. Um 1 g Samen ohne Spelzen zu erhalten, braucht man ca. 500 Körner des Wasserschwaden, ca. 118 der Roggentrespe, aber nur 26 der heutigen Kulturgerste.
Auch andere wilde Mehlfrüchte früherer Notzeiten fallen durch die geringe Samengrösse auf, etwa der Weisse Gänsefuss (Chenopodium album, Méil,  Mill) und die Meldearten (Atriplex sp., Méil, Mill (sic!)). Durch Reiben zwischen den Handflächen kann man bei ihnen die Samen von der Spreu trennen. Das Mehl erinnert geschmacklich an Buchweizen. Diesem äusserlich ähnlich sehen die Früchte des Heckenknöterich (Fallopia convolvulus, wëllt Hädekar), die ebenfalls verarbeitet wurden. Die wilden Sauerampferarten (Rumex sp.) erhielten sogar ihren luxemburgischen Namen nach der Art der Ernte: Strëpp, von strëppen. Die Früchte wurden über einem Gefäss mit der Hand von der Pflanzenachse abgestreift. Das daraus bereitete Mehl hat allerdings nur einen geringen Nährwert. 
Jedes Kind kannte früher die „Bréidercher“, die angenehm schmeckenden Früchte der Wegmalve (Malva neglecta). In Notzeiten waren sie nicht mehr die beliebte Nascherei der Kleinen, sondern wurden kurz vor der Reife gesammelt und wanderten in die Mühle. Dort wurden auch die wenig saftigen Heckenfrüchte wie die Weissdornbeeren (Crataegus sp.) und die Mehlbeeren (Sorbus aria) vermahlen, daran erinnern noch ihre Namen: Millebizen, Millebiren, Millebéinchen etc... Die kleinen Nüsschen in den Hagebutten, die bei der Herstellung von Mus oder Marmelade anfallen, heissen lokal ähnlich, und wurden wohl entsprechend verwertet. Sogar Flurnamen sind erhalten geblieben: Millebaemchen bei Eschdorf, Mielbam bei Hosingen etc... 
Eicheln enthalten grosse Mengen an Gerbstoffen. Um sie für die menschliche Ernährung brauchbar zu machen, mussten sie zuerst geschält, dann stundenlang gekocht werden, um soviel dieser Tannine wie möglich herauszulösen, erst dann konnte man sie vermahlen. Auch Bucheckern sind nicht ohne weiteres verwendbar. Sie wurden aus der verholzenden Hülle geholt, über dem Feuer gedarrt, um die durch Fagin leicht giftige Haut zu entfernen, und dann zu Mehl verarbeitet. Schon für die Steinzeit lassen sich diese nahrhaften Produkte nachweisen. Eichelmehl bringt es z.B. auf 500 kcal/100g.
Um unterirdische Pflanzenteile nutzen zu können, war ein spezielles Wissen erforderlich. Zur Hauptsammelzeit im Frühling und Herbst, wenn Wurzelstöcke und Knollen am nahrhaftesten sind, findet man meist weder Blüten noch Blätter, die eine sichere Bestimmung ermöglichen. Die Wurzelsammler von einst vertrauten auf ihre Erfahrung. Sie achteten auf Merkmale, die man in modernen Büchern nur selten findet: Geruch, Farbe, Geschmack, Textur, Bodentiefe etc... Von Generation zu Generation weitergegeben, waren diese Kenntnisse die Grundlage der Notküche.
Relativ einfach zu erkennen sind die Brutzwiebeln des Scharbockskrautes (Ranunculus ficaria, Äerdgiescht), die in den Blattachseln entstehen, später zu Boden fallen, und vom Regen zu kleinen Häufchen zusammengeschwemmt werden. Ebenfalls gesammelt wurden die bis zu 2,5 cm langen, keulenförmigen Wurzelknollen, deren man pro Pflänzchen bis 30 Stück finden kann. Vermahlen wurden weiterhin die rübenförmig verdickten Wurzeln der Knollenplatterbse (Lathyrus tuberosus, Akernoss), die nussartige Erdkastanie (Bunium bulbocastanum, Aerdnoss), die früher auf Lehmböden im Gutland häufiger war als heute, die unterirdische Sprossachse des Tüpfelfarns (Polypodium vulgare, Séisswuurzel), und andere. Im Ösling, wo letzerer besonders häufig ist, wurde er wegen seines leicht süssen Geschmacks von den Kindern ausgegraben, zerkaut und ausgesaugt. Das war ihr „wëllt Séissholz“. Kaum vorstellbar für die mit Süssigkeiten aller Art umworbenen Cyber-Kids unserer Tage! In Notzeiten wanderten die Sprosse natürlich in die Mühle.
War die sichere Identifizierung schwierig genug, so kamen oft noch weitere Probleme hinzu. Es mussten gefährliche Giftstoffe eliminiert werden! Im Alzettetal war früher die Gelbe Teichrose (Nuphar lutea, Uelzechtrous) recht häufig. Ihre jungen, mehligen Wurzelstöcke enthalten viel Stärke, aber auch ein giftiges Alkaloid, das demjenigen des Roten Fingerhutes (Digitalis purpurea) sehr ähnlich ist. Es musste durch stundenlanges Kochen in mehreren Wassern herausgelöst werden. Die unterirdischen Organe des Aronstabes (Arum maculatum, Zierwuurzel) enthalten Kalziumoxalat und Saponine. Um diese schädlichen Substanzen zu entfernen, musste der Wuzelstock ebenfalls stundenlang gekocht, danach geröstet, fein geraspelt, gemahlen, gesiebt, erneut gewässert, und schliesslich getrocknet werden. Eine mühselige, zeitraubende Technik, wenn einem der Magen knurrt. Wurde die Prozedur jedoch verkürzt, weil man den bohrenden Hunger nicht mehr aushielt, dann drohten lebensgefährliche Vergiftungen!
Um das Mehl aus den Wurzeln von Waldziest (Stachys sylvatica, wëll Brenndëschtel), Weisswurzarten (Polygonatum sp., Wäisswuurzel) und vieler anderer Kräuter geniessbar zu machen, waren ähnliche Verfahren notwendig. Und doch sind viele der erzielten Resultate aus heutiger toxikologischer Sicht zumindest bedenklich. Hatten unsere Vorfahren einen robusteren Magen als wir? Man sollte fast meinen wenn man in alten Chroniken liesst, was z.B. während des 30-jährigen Krieges bei uns so alles vermahlen wurde, um dem Hungertod zu entgehen: Stroh, Holzasche, Bast von Baumrinden, Nussschalen, Queckenwurzeln, die bekanntlich so drahtartig und hart sind, dass sie selbst Kartoffeln durchwachsen können...wahrlich schlechte Zeiten für verwöhnte Gourmets!
Während vieler Jahrtausende haben Wildpflanzen dem Menschen das Überleben gesichert. In jeder Landschaft wurde die spezifische, natürliche Vielfalt genutzt. Die dabei entwickelten Techniken zum Erkennen der geeigneten Arten, zur Entgiftung und Verarbeitung sind bereits weitgehend verloren gegangen. Die Erforschung der Kulturgeschichte der Pflanzen unserer Landstriche sollte so schnell wie möglich vorangebracht werden, denn sie lässt uns auch den Weg des Menschen durch Raum und Zeit besser verstehen. 
Mäusegerste
Roggentrespe
Wurden in Notzeiten zu Mehl vermahlen: die Körner der Mäusegerste (links) und der Roggentrespe (rechts)
 
 

Weissdorn
Mehlbeere

Wilde Brotfrüchte von einst: Weissdorn (oben) und Mehlbeere (unten)
 
 

Ranunculus ficaria

Das Scharbockskraut (oben: Blüte) diente unseren Vorfahren im Frühjahr als „Äerdgiescht“ (mitte: Brutzwiebeln, unten: Wurzelknollen)
 

Polypodium vulgare

Die unterirdische Sprossachse des Tüpfelfarns (lïnks oben und unten) kannten die Öslinger Kinder als „wellt Séissholz“.
 
 


Um den Wurzelstock der Vielblütigen Weisswurz (Polygonatum multiflorum) in der Küche zu nutzen, waren spezielle Entgiftungstechniken notwendig.
Text und Photos: Marc Heinen, Bettemburg

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